38

 

Der Traum des einen ist der Albtraum des anderen.

Uraltes Sprichwort von Kaitain

 

 

Nachdem sie Stukas Leiche fortgeschafft hatten, trennten die Nomaden Sheeana und Teg von Stilgar und Liet-Kynes. Anscheinend betrachteten sie die beiden Jungen – mit ihren zwölf und dreizehn Jahren – nicht als Gefahr, ohne zu wissen, dass beide tödliche ausgebildete Fremenkrieger waren, die lebhafte Erinnerungen an viele Feldzüge gegen die Harkonnens hatten.

Teg durchschaute die Strategie. »Der alte Anführer will die jüngeren unter uns zuerst befragen.« Var und seine harten Kameraden mussten davon ausgehen, dass sich die Jugendlichen leichter einschüchtern ließen und einer eindringlichen Befragung nur wenig Widerstand entgegensetzen würden.

Teg und Sheeana wurden in ein Zelt gebracht, das aus einer harten, verwitterten Polymerfaser bestand. Das Gebilde war eine seltsame Verbindung aus primitiver Konstruktion und hochentwickelter Technik, zugleich zweckmäßig und leicht zu transportieren. Der Wachmann schloss die Zeltklappe und blieb draußen stehen.

Das fensterlose Zelt umschloss einen leeren Raum. Es gab weder Decken, Kissen noch sonstige Einrichtungsgegenstände. Teg ging eine Weile im Kreis umher, bis er sich neben Sheeana auf den festgetretenen Boden setzte. Er grub mit den Fingern und hatte bald ein paar scharfe Steine gefunden.

Mit der Klarheit eines Mentaten gab er eine Einschätzung ihrer Lage. »Wenn wir nicht zurückkehren oder uns melden«, sagte er mit leiser Stimme, »können wir damit rechnen, dass Duncan eine weitere Gruppe auf den Planeten schickt. Er wird auf alles vorbereitet sein. Es mag abgedroschen klingen, aber wir können auf Rettung hoffen.« Er wusste, dass diese Nomaden einem militärisch geführten Angriff nichts entgegenzusetzen hatten. »Duncan ist umsichtig. Ich habe ihn gut ausgebildet. Er wird wissen, was zu tun ist.«

Sheeana starrte in meditativer Trance auf die Zelttür. »Duncan hat viele Leben gelebt und erinnert sich an jedes einzelne, Miles. Ich bezweifle, dass du ihm noch etwas Neues beibringen konntest.«

Teg griff nach einem Stein, was ihm zu helfen schien, sich zu konzentrieren. Selbst in einem leeren Zelt erkannte er tausend mögliche Fluchtwege. Sheeana und er konnten mühelos ausbrechen, den Wachmann töten und sich zum Leichter durchkämpfen. Teg musste vielleicht gar nicht auf seine Beschleunigungsfähigkeit zurückgreifen. »Diese Leute können es weder mit mir noch mit dir aufnehmen. Aber ich werde Stilgar und Liet hier nicht zurücklassen.«

»Ah, der treue Bashar.«

»Ich würde auch dich nicht zurücklassen. Aber ich befürchte, dass diese Leute unser Schiff startunfähig gemacht haben, was unsere Flucht zunichte machen würde. Ich habe gehört, wie sie es geplündert haben.«

Sheeana starrte auf die schattige Zeltwand. »Miles, ich mache mir weniger Sorgen um die Möglichkeit einer Flucht, sondern bin viel mehr an der Frage interessiert, warum man uns am Leben gelassen hat. Vor allem mich, wenn ich bedenke, was sie über die Schwesternschaft gesagt haben. Sie hätten allen Grund, mich zu hassen.«

Teg versuchte sich die großmaßstäblichen Völkerwanderungen auf diesem Planeten vorzustellen. Die Bewohner der Dörfer und Städte mussten über Jahre verfolgt haben, wie der Sand ihre Äcker und Felder eroberte, ihre Gärten erstickte und immer näher an die Stadtgrenzen heranrückte. Sie mussten sich vor der Wüstenzone zurückgezogen haben wie vor einem langsamen Flächenbrand.

Vars Nomaden hingegen ... waren sie Aasgeier und Außenseiter? Hatte man sie aus den größeren Bevölkerungszentren verstoßen? Warum beharrten sie darauf, an der Schwelle der vorrückenden Wüste zu leben, wo sie ständig mit ihren Zelten umziehen mussten? Zu welchem Zweck?

Dieses Volk war technisch durchaus begabt, und Qelso war offensichtlich schon zu einem frühen Zeitpunkt der Diaspora besiedelt worden. Sie hatten eigene Bodenfahrzeuge und Flugmaschinen gebaut, mit denen sie schnell zwischen den Dünen vorankamen. Wenn sie keine Verbannten waren, besorgten sich Vars Leute ihre Vorräte vielleicht in den fernen Städten im Norden.

In den folgenden Stunden sprachen Teg und Sheeana kaum ein Wort, während sie auf die gedämpften Geräusche von draußen horchten, wie der trockene Wind am Zelt zerrte, wie überall der lose Sand rieselte. Draußen schien alles in Bewegung zu sein. Die Menschen liefen in Gruppen hier- und dorthin und arbeiteten mit Maschinen.

Während Teg lauschte, versuchte er die Geräusche im Kopf zu katalogisieren und sich ein Bild vom Geschehen zu machen. Er hörte das Hämmern eines Bohrers, der einen Brunnenschacht aushob, gefolgt von einer Pumpe, die Wasser in kleine Zisternen beförderte. Jedes Mal, nach einem kurzen Schwall fließenden Wassers, versiegte der Strom bald wieder. Teg wusste, dass dieses von den Sandforellen verursachte Problem auch bei Bohrversuchen auf Arrakis aufgetreten war. In sehr tiefen Sandschichten gab es Wasser, aber es wurde von den gierigen kleinen Bringern abgeschirmt. Wie Schorf auf einer Wunde wurde das Leck sofort von den Sandforellen versiegelt. Als er den Klagen der Leute lauschte, wurde Teg klar, dass sie sehr wohl mit dem Problem vertraut waren.

Als es dunkel wurde, hielt der Wachmann die Klappe auf, und ein verstaubter junger Mann trat ins Zelt. Er brachte eine kleine Mahlzeit aus hartem Brot und Trockenfrüchten mit, dazu ein Stück weißes Fleisch, das nach Wild schmeckte. Außerdem erhielten die beiden Gefangenen sorgfältig abgemessene Wasserrationen.

Sheeana blickte auf ihren verschlossenen Becher. »Sie haben bereits die Notwendigkeit des sparsamen Umgangs mit Flüssigkeit gelernt. Allmählich verstehen sie, wie sich ihre Welt verändern wird.« Der junge Mann sah sie mit offensichtlicher Verachtung für ihr Bene-Gesserit-Gewand an und ging wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben.

Während der Nacht blieb Teg wach, horchte und arbeitete an einem Plan. Die Untätigkeit machte ihn nervös, aber er wusste, dass Geduld klüger als überstürztes Handeln war. Von Liet oder Stilgar hörten sie nichts, und er machte sich Sorgen, dass die beiden jungen Männer bereits tot waren, genauso wie Stuka. Hatte man sie während des Verhörs umgebracht?

Sheeana saß neben ihm und befand sich in einem erhöhten Zustand der Wachsamkeit. Selbst im Schatten des Zeltes waren ihre Augen hell. Soweit Teg ermitteln konnte, hatte sich der Wachmann keinen Schritt von seinem Posten vor dem Zelteingang entfernt, sich offenbar nicht ein einziges Mal bewegt. Die Menschen schickten immer wieder Gruppen in Skimmern in die Nacht hinaus, als wäre dieses Lager die Basis für einen bevorstehenden Kriegszug.

Als der Morgen angebrochen war, kam der alte Var zum Zelt und unterhielt sich in knappen Worten mit dem Wachmann, bevor er die Klappe zur Seite schlug. Sheeana erhob sich in eine hockende Position und war sprungbereit. Teg spannte sich an und war ebenfalls auf einen Kampf gefasst.

Der Nomadenführer blickte Sheeana finster an. »Wir haben dir und deinen Hexen nicht verziehen, was ihr auf Qelso angerichtet habt. Das wird nie geschehen. Aber Liet-Kynes und Stilgar haben uns überzeugt, dass wir euch am Leben lassen, zumindest so lange, wie wir von euch lernen können.«

Der runzlige Anführer führte die beiden Gefangenen ins grelle Sonnenlicht hinaus. Der Wind trieb ihnen brennenden Sand in die Augen. In der Umgebung des Dorfes waren sämtliche Bäume abgestorben. Die wehenden Dünen waren während der vergangenen Nacht wieder etwa einen Meter am Felsgrat weitergewandert. Jeder Atemzug war knochentrocken, obwohl es am frühen Morgen noch verhältnismäßig kühl war.

»Ihr habt die anderen Bene Gesserit getötet«, sagte Sheeana, »und unsere Gefährtin Stuka. Bin ich als Nächste dran?«

»Nein. Weil ich gesagt habe, dass ihr am Leben bleibt.«

Der alte Mann führte sie durch die Siedlung. Arbeiter bauten bereits große Lagerzelte ab, um sie weiter vom Sand entfernt neu zu errichten. Ein schweres, mit Kisten beladenes Bodenfahrzeug rumpelte vorbei. Eine klobige Flugmaschine näherte sich und landete im weichen Sand. Vielleicht eine Art Tanker?

Var brachte sie zu einem großen Gebäude in der Mitte des Lagers. Es bestand aus einzelnen Metallplatten und einem kegelförmigen Dach. Drinnen stand ein langer Tisch, der mit Karten übersät war. Berichte waren an die Wände geheftet, und eine Landkarte nahm eine komplette Wand ein. Es war eine detaillierte topografische Projektion des gesamten Kontinents. Zahllose Markierungen zeigten, wie sich der Wüstengürtel beständig ausdehnte.

Männer saßen um den Tisch und besprachen die neuesten Berichte. Immer wieder erhoben sich lautere Stimmen aus dem Tumult. Stilgar und Liet-Kynes, die beide staubige Schiffsanzüge trugen, winkten den anderen zwei Gefangenen zu. Die jungen Männer wirkten zufrieden und entspannt.

Als er die Szene musterte, wurde Teg klar, dass Stilgar und Liet den ganzen vorigen Tag in diesem Kommandozentrum verbracht hatten. Der alte Anführer baute sich zwischen ihnen und den anderen beiden auf und bot Teg und Sheeana keinen Sitzplatz an.

Var schlug auf den Tisch und brachte die Kakophonie zum Verstummen. Alle unterbrachen ihre Gespräche, ungeduldig, wie es schien, und blickten ihn an. »Wir haben uns die Schilderungen dieser jungen Leute angehört, wie sich unsere Welt verwandeln wird. Wir alle haben die Legenden des verlorenen Wüstenplaneten gehört, wo Wasser kostbarer als Blut war.« Sein Gesicht hatte einen erschöpften Ausdruck. »Wenn wir scheitern und die Würmer diese Welt übernehmen, wird unser Planet nur nach den Maßstäben von Außenweltlern wertvoll sein.«

Einer der Männer starrte Sheeana an. »Verdammte Bene Gesserit!« Alle anderen Blicke richteten sich ebenfalls auf sie, und sie stellte sich ihrem Missfallen, ohne einen Kommentar abzugeben.

Liet und Stilgar schienen in ihrem Element zu sein. Teg erinnerte sich an die Diskussionen unter den Bene Gesserit über das ursprüngliche Ghola-Projekt, als es darum gegangen war, wie die längst vergessenen Fähigkeiten historischer Persönlichkeiten wieder von Nutzen sein konnten. Dies war das beste Beispiel. Die beiden prominenten Überlebenden aus den alten Tagen von Arrakis wussten ganz genau, wie man mit der Krise umgehen musste, vor der diese Menschen standen.

Der ergraute Anführer hob die Hände, und seine Stimme klang so trocken, wie es die Luft war. »Nach dem Tod des Tyrannen vor langer Zeit ist mein Volk in die Diaspora geflohen. Als es Qelso erreichte, glaubte es, den Garten Eden wiedergefunden zu haben. In den folgenden eintausendfünfhundert Jahren war es das Paradies für sie.«

Die Männer blickten Sheeana finster an. Var erklärte, wie die Flüchtlinge eine florierende Gesellschaft aufgebaut hatten, Städte errichtet, Nutzpflanzen angebaut und nach Mineralien und Metallen geschürft hatten. Sie hatten kein Bedürfnis, sich weiter auszubreiten oder auf die Suche nach anderen verlorenen Brüdern zu gehen, die während der Hungerjahre geflohen waren.

»Dann hat sich vor wenigen Jahrzehnten alles geändert. Besucher kamen, Bene Gesserit. Wir haben sie freundlich empfangen, froh über Nachrichten aus dem Alten Imperium. Wir boten ihnen eine neue Heimat an. Sie wurden unsere Gäste. Doch diese undankbaren Hexen vergewaltigten unseren gesamten Planeten, und nun liegt er im Sterben.«

Ein anderer Mann ballte die Hände zu Fäusten, als er die Erzählung fortsetzte. »Die Sandforellen vermehrten sich unkontrolliert. Große Wälder und weite Ebenen starben innerhalb weniger Jahre – nur weniger Jahre! Im Trockenland brachen Flächenbrände aus, das Klima veränderte sich und verwandelte einen großen Teil unserer Welt in Sandgruben.«

Teg meldete sich zu Wort und setzte seine Kommandostimme ein. »Wenn Liet und Stilgar euch von unserem Nicht-Schiff erzählt haben, wisst ihr, dass wir keine Sandforellen an Bord haben und nicht die Absicht hegen, eurer Welt Schaden zuzufügen. Wir haben hier nur einen Zwischenstopp eingelegt, um unsere Vorräte aufzufrischen.«

»Wir sind vor der neuen Organisation der Bene Gesserit geflohen, weil wir mit der Politik der Führungsschicht nicht einverstanden waren«, fügte Sheeana hinzu.

»Ihr habt sieben große Sandwürmer in eurem Frachtraum«, warf Var ihnen vor.

»Ja, aber wir werden sie hier nicht freilassen.«

Liet-Kynes sprach leise, als würde er zu Kindern reden. »Wie wir euch bereits gesagt haben, entwickelt sich der Prozess der Wüstenbildung, nachdem er einmal eingesetzt hat, als unaufhaltsame Kettenreaktion weiter. Die Sandforellen haben keine natürlichen Feinde, und sie kapseln jedes Wasservorkommen so effektiv ein, dass sich nichts schnell genug daran anpassen kann.«

»Trotzdem kämpfen wir weiter«, sagte Var. »Ihr seht, unter welch einfachen Bedingungen wir in diesem Lager leben. Wir haben alles aufgegeben, um hier existieren zu können.«

»Aber warum?«, fragte Sheeana. »Obwohl sich die Wüste ausbreitet, habt ihr noch viele Jahre, euch vorzubereiten.«

»Vorzubereiten? Meinst du damit, wir sollten kapitulieren? Nenne es meinetwegen einen hoffnungslosen Kampf, aber es ist trotzdem ein Kampf. Wenn wir die Wüste nicht aufhalten können, werden wir ihren Vormarsch wenigstens verlangsamen. Wir führen Krieg gegen die Würmer und gegen den Sand.« Die Männer am Tisch murmelten. »Ganz gleich, was ihr sagt, wir werden auf jede erdenkliche Weise versuchen, der Wüstenbildung Einhalt zu gebieten. Wir töten die Sandforellen, wir jagen die neuen Würmer.« Var stand auf, und die anderen folgten seinem Beispiel. »Wir sind Soldaten, die sich geschworen haben, den Tod unserer Welt hinauszuzögern.«

Dune 08 - Die Erlöser des Wüstenplaneten
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